Vorsitzender des Deutschen Kulturrates a.D.
Statement aus Anlass der Vorstellung der Initiative Hören am 12. 12. 2002 im ARD-Hauptstadtbüro Berlin.
Hören entwickelt sich als Form menschlicher Sinneswahrnehmung vor dem Sehen, nämlich bereits im Mutterleib. Die Herzgeräusche, die Geräusche des Darmes, aber auch die (gedämpften) Geräusche der Außenwelt wirken auf das Kind so ein, dass es darauf reagiert und gerade zu Herztönen ein besonderes Verhältnis entwickelt, das ein Leben lang andauert. Hören ist – anders als die „Nahsinne“ Riechen, Schmecken und Tasten – wie das Sehen ein Fernsinn. Es ist der genuin soziale Sinn, da sich über das Hören die Wahrnehmung der Umgebung und – über diesen „Umweg“ – Regeln sozialen Zusammenseins entwickeln. Insbesondere darf der Aspekt der Werteorientierung nicht vernachlässigt werden. Denn die Billigung oder Missbilligung von Handlungen drückt sich sehr stark über den Tonfall und die Lautstärke aus. Fehlt die Möglichkeit, auf diese Weise die Bewertung von Handeln wahrzunehmen, muss dies durch andere Formen ersetzt werden.
Auch im Hinblick auf Selbstwahrnehmung und Selbstreflexivität spielt das Hören eine entscheidende Rolle, da sich ein äußerst effektiver Rückkopplungsprozess „Sprechen – Sich selbst sprechen hören“ entwickelt.
In kultureller Hinsicht gibt es zurzeit – aus guten Gründen – geradezu eine Rehabilitation der mündlichen Überlieferung und des Zuhörens. Ohne die unstrittige Bedeutung der Schrift in Frage stellen zu wollen, muss man sehen, dass hiermit nur ein Teil der menschlichen Kultur erfasst wird: Das kulturelle Gedächtnis der Menschheit ist auch auf das Orale angewiesen. Aus diesem Grund diskutiert man in der UNESCO die Frage, wie es gelingen kann, neben den Artefakten, so wie sie die bisherigen Listen des Weltkulturerbes erfassen, auch andere – eben: orale – Traditionen gesichert werden können (immaterielles Kulturerbe).
Es gibt also viele gute fachliche Gründe, diese Initiative Hören zu unterstützen.